Tuareg

Eine Wiege der Kultur

Die Funde noch sehr primitiv bearbeiteter Steinwerkzeuge (Pebbletools), die vermutlich im Pleistocene vor bis zu 1,5 Millionen Jahren von Vertretern des Homo habilis hergestellt wurden, zeigen, dass die Sahara schon sehr früh von Menschen besiedelt wurde. Die Sahara ist an manchen Stellen geradezu übersät mit Steinwerkzeugen aus verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte. Einige Orte vermitteln gar den Eindruck, als hätten frühe Jäger- und Sammlerkulturen diese gerade verlassen. Schwere steinerne Reibschalen und große Steine mit Rillen zum schärfen von spitzen Werkzeugen schließen aus, dass sie von durchziehenden Nomaden zurückgelassen wurden.  Die reiche, in abgelegenen Gebieten, in die normale Touristen nicht gelangen, noch ungestörte Fundsituation, macht die Sahara zu einem überaus interessanten Anschauungsfeld der Menschheitsgeschichte. Die abgebildeten Faustkeine aus dem Süden der Algerischen Sahara sind vermutlich dem frühen Acheuléen vor etwa 500000 Jahren zuzurechnen. Die Fundorte, die heute in trockenen Gebieten der Sahara liegen, waren zu jener Zeit bewachsen und boten ausreichend Trinkwasser. Doch es folgten neue Trockenzeiten, in denen die Menschen sich aus der Sahara zurückzogen und Vegetationszeiten, in denen die Sahara aufs Neue besiedelt wurde. Um etwa 13000 vor Chr. begann die Sahara erneut feuchter zu werden, es entstand ein neuer Bewuchs und es siedelte sich eine reiche Tierwelt an, bis um etwa 4000 vor Chr. eine neue Trockenperiode begann. Aus der letzten Vegetationsperiode stammen zahlreiche Felszeichnungen von Wildtieren, wie man sie heute in den afrikanischen Savannen findet, Darstellungen von Menschen und Haustieren.

Ein Volk der Berber

Seit dem 11. Jahrhundert wird die Zentralsahara (Algerien, Niger, Mali) von Tuareg bewohnt, einem zu den Berbern gehörendem Volk, das aus seinem angestammten Lebensraum im Süden Libyens verdrängt wurde. Die Sprache, Tamaschek, ist dem Berber verwandt und hat bis auf einige arabische Lehnwörter, keine Ähnlichkeit mit dem Arabischen. Auffallend ist, dass die Frauen unverschleiert sind, die Männer hingegen das Gesicht mit dem sogenannten Tagelmust verschleiern. Die Frauen sind eigenständig und haben eigenes Vermögen. Unter Zwang wurden die Tuareg zwar zum Islam bekehrt, doch habe ich keine Tuareg getroffen, die sich dem Islam sonderlich verpflichtet fühlten.

Ein kriegerisches Volk

Die Tuareg waren bis in das letzte Jahrhundert hinein ein kriegerisches Volk, das wegen seiner Überfälle auf durchziehende Karawanen berüchtigt war. Heute leben Tuareg als Kamel- und Ziegenzüchter. Zwischen 1980 und 1990 konnte man in schwer erreichbaren, abgeschiedenen Gebieten der Algerischen Sahara noch auf zahlreiche völlig traditionell als Nomaden oder Halbnomaden lebende Tuaregstämme treffen, die weder Uhren, noch Radio oder Autos kannten. Dadurch eigneten diese sich im besonderen Maße für kulturvergleichende Studien.

Die Bilder zeigen frühe Faustkeile aus dem Acheuléen, eine schwere Reibschale aus dem Süden der Sahara und eine Felszeichnung, aus einer Feuchtperiode vor mehr als viertausend Jahren. Bilder aus der Lebensumwelt der Tuareg im Tassili, Hoggar und den Sandwüsten Südalgeriens, sowie Tuareg in abgelegenen Gebieten, die ihre traditionelle Lebensweise beibehalten haben.

San

Die Buschmänner

Ebenfalls als Jäger und Sammler leben die San (Buschmänner). Zunächst von Bantu, dann von holländischen und deutschen Siedlern verdrängt, lebt die größte Population heute in der Kalahari Botsuanas und Namibias. Traditionell als Jäger und Sammler lebend, haben sie sich hervorragend an das Leben in der Trockensavanne angepasst. Nur sehr kleine Gruppen konnten ihre traditionelle Lebensart beibehalten. Die traditionelle Behausung besteht in aus Zweigen und Gras errichteten Hütten. Bekannt sind die San durch ihre Art der Jagdausübung, bei der sie als extrem ausdauernde Langstreckenläufer das Wild hetzen, bis dieses erschöpft aufgibt. Getötet werden die Tiere mit Pfeilen, die sie mit Gift bestrichen haben, das sie aus einer Raupe gewinnen, die an den Wurzeln eines bestimmten Strauches lebt. Die Abbildung zeigt einen Tänzer der San in Botsuana.

Massai

Gefürchtete Krieger

Wie die Tuareg, waren auch die Massai gefürchtete Krieger, die Karawanen überfielen und Kämpfe mit Nachbarstämmen ausfochten. Dem britischen Militär waren sie jedoch nicht gewachsen, so dass sie ins südliche Uganda und Tanzania verdrängt wurden, ihr Land geraubt und von Europäern besiedelt wurde. Dennoch existieren abgelegene Gebiete, in denen die Massai als Rinder- und Ziegenzüchter leben und sehr darauf achten, ihre Traditionen zu bewahren. Mit der Anzahl der Rinder steigt das Ansehen eines Massai. Auch in dieser Tradition kann ein Mann mehrere Frauen heiraten. Die Zustimmung der Frau wird dabei nicht eingeholt. Jede Frau lebt mit ihren Kindern in einer eigenen Hütte, so dass die Hütten mehrerer Frauen eines Mannes ein kleines Dorf bilden. Die Hütte, in der der Herr des Hauses gerade weilt, ist erkennbar an der vor ihr im Boden steckenden Lanze. In der Mitte des Dorfes befindet sich ein kreisrundes mit Dornenbüschen eingezäuntes Gatter, in dem Ziegen und Rinder zum Schutz vor Löwen die Nacht verbringen. Den Frauen werden die schweren Arbeiten übertragen, wie Hüttenbau und Holz sammeln. Die Hütten bestehen aus Holzstämmen und aus mit Kuhmist vermischtem Lehm. Die Hütten sind fensterlos, dunkel und durch eine kleine Feuerstelle verraucht. Geschlafen wird auf einer harten, getrockneten Kuhhaut, die auf einem Gestell aus Reisig liegt.  Die Männer werden nach der Beschneidung mit etwa 15 Jahren zu Kriegern, die an langen Haaren, die zu Zöpfen geflochten sind, erkennbar sind. Massaikrieger pflegen ihr Kriegerdasein und bewachen ihren kostbarsten Besitz, die Rinder. Erst mit etwa 30 Jahren verlassen sie die Kriegerkaste wieder und zählen dann zu den respektierten Älteren. Auch heute verfügt jeder traditionell lebende Massai über Speer und Schwert. Da kriegerische Auseinandersetzungen nicht mehr geduldet werden, beweisen manche Männer ihren Mut indem sie mit der Lanze einen Löwen erlegen. Obwohl die Löwenjagd ihnen verboten ist, zeigten mir einige Massai frisch ausgelöste Löwenkrallen und brüsten sich mit der Zahl erlegter Löwen. Die Ernährung besteht aus dem Blut der Rinder, das oft mit Milch vermischt wird. Das Blut wird gewonnen, indem eine Halsvene des Rindes angestochen wird, etwa 2 Liter Blut in einer Kalebasse aufgefangen und die Wunde mir Lehm und Kuhdung verschlossen wird. Massai werden nicht müde, den Wohlgeschmack und Nährwert frischen Blutes zu rühmen.

Die Bilder zeigen in ihrer traditionellen Kultur lebende Massai und ihre Hütten.

Himba

Eine ursprüngliche Kulturstufe

Auf einer sehr ursprünglichen Kulturstufe leben auch die Himba im nördlichen Namibia, im Bereich des Kunene, der Grenzfluss zu Angola ist. Man trifft hier immer wieder auf kleine, im Busch versteckte Himbadörfer. Im Gegensatz zu den Hadzabe bauen die Himba kleine, runde Hütten aus Lehm, Kuhdung und Zweigen. Lebensgrundlage ist die Haltung von Ziegen, Schafen und Kühen. Da das Land savannenartig trocken, teilweise mit dürrem Buschwerk bestanden ist, sind die Himba gezwungen, ihr Vieh in nomadischer oder halbnomadischer Lebensweise zu wechselnden Weidegründen zu führen. Kühe bestimmen das Denken und das Prestige und haben sogar einen Platz in dem religiösen Mythos und der Kosmologie der Himba. Die Bedeutung des Besitzes von Kühen zeigen die auf dem Grab eines Himba aufgetürmten Kuhschädel, die Auskunft über das Ansehen des Verblichenen zu Lebzeiten geben. Von einer schweren Dürreperiode, die die Herden der Himba erheblich dezimierte, hat der Tierbestand sich heute weitgehend erholt. Neben der Viehzucht existiert mancherorts in bescheidenem Maße Maisanbau. Auffallend ist die rötliche Hautfarbe der Himba, die dadurch entsteht, dass der ganze Körper mit einer Mischung aus Fett und rötlichem Staub eingerieben wird. Die Haare der Frauen werden zu bis auf die Schulter reichenden Zöpfen geflochten und mit einer roten Lehmschicht bedeckt. Nach der Hochzeit tragen die Frauen eine lederne, Kuhhörner andeutende Kopfbedeckung. Die Kleidung der Männer besteht aus einer Art Rock und einer Ledermütze. Frauen tragen einen Lendenschurz. Der Oberkörper der Frauen bleibt unbekleidet. Die Hals- und Beinketten werden zum größten Teil aus Eisenperlen gefertigt. Die Halskette enthält neben Eisenperlen ein großes Schneckenhaus. Männer wie Frauen schmücken sich mit Halsreifen. Ein Mann kann mehr als eine Frau heiraten. Außereheliche Beziehungen sind verbreitet. Männer haben die Hauptentscheidungsgewalt, jedoch tragen die Frauen die Hauptlast täglicher Arbeit, wie Hüttenbau, Holz sammeln, Mahlzeiten zubereiten, Kinder betreuen, während die Männer die Herden bewachen.

Lebensraum

Die Bilder zeigen den Lebensraum der Himba: Kunene mit Epupafällen, mit Bäumen bewachsenes Ufer des Kunene auf der angolanischen Seite, im Hintergrund die vorherrschende Trockensavanne. Himba in einer Siedlung im Kaokoland, Nordnamibia.

Haza

Wiege der Menschheit

Die Wiege der Menschheit befand sich nach heutigem Wissen in Ostafrika. Unsere Vorfahren waren alle Afrikaner, die sich von hier aus über die ganze Welt ausbreiteten. Die Hadzabe leben noch heute auf einer sehr frühen Kulturstufe am ostafrikanischen Grabenbruch, der Urheimat unserer Vorfahren. Sie betreiben weder Ackerbau noch Viehzucht, sondern leben, wie unsere frühen Vorfahren, als Jäger und Sammler. Hunde leben in ihrem Stammesverband, sind jedoch nicht abgerichtet und kommunizieren nicht mit dem Menschen. Ansprache ist ihnen fremd, und sie zeigen keine Reaktion, wenn man sie anspricht. Hier wird deutlich, dass nicht der Mensch „auf den Hund gekommen“ ist, sondern der Hund sich dem Menschen als Nahrungsquelle angeschlossen hat. Feuer entfachen die Hadzabe mit einem Holzstab, der in der Vertiefung eines Holzbretts aufsitzt und rasch zwischen den Händen gedreht wird. Die dabei entstehende Reibungswärme entzündet trockenes Gras. Die Männer jagen mit Pfeil und Bogen, sammeln Beeren und wilden Honig. Töpfe werden keine verwendet, sondern die erlegten Tiere werden, kleinere Tiere mit Haaren oder Federn, ins Feuer gelegt und ohne kulinarische Bearbeitung verspeist. Das Nahrungsangebot ist oft sehr gering, so dass den Hadzabe kaum mehr als das Minimum zum Überleben zur Verfügung steht. Sie graben keine Brunnen, sondern trinken Wasser aus natürlichen Wasserlöchern. Hadzabe bauen keine Hütten und errichten keine Zelte; sie verbringen Tag und Nacht unter freiem Himmel, manchmal unter einem Felsüberhang. Sie weben keine Kleidung und verarbeiten kein Metall. Messer und Pfeilspitzen erwerben sie im Tauschhandel bei den Schmieden der Datoga, einem Nachbarstamm. Die Hadzabe weisen genetisch keine enge Verwandtschaft mit benachbarten Völkern auf und auch ihre Sprache ist eigenständig, Schrift ist unbekannt. Ihre Wesensart ist ernst und zurückhaltend, aber freundlich. Von dem Wenigen, was sie hatten, wollten sie mir stets etwas abgeben. Man kann die Hadzabe als ein lebendes Fossil betrachten, eine Gesellschaft, in der wir, in ihrer angestammten Heimat, auf unsere frühen Vorfahren treffen. Die Bilder zeigen zwei verschiedene Hadzabegruppen, am morgendlichen Lagerfeuer und auf der Jagd.

Datoga

Die in der Nachbarschaft der Hadzabe lebenden Datoga bauen Hütten, aus Holz und Lehm, mahlen Mehl, stellen Gefäße her und betreiben Viehzucht. Ein Mann, der es sich leisten kann, heiratet mehrere Frauen. Ein bereits über 80 Jahre zählender Datoga, den ich besuchte, hatte 9 Frauen ab einem Alter von etwa 18 Jahren und unzählige Kinder. Die Frauen hatten ein sehr freundschaftliches Verhältnis untereinander, kümmerten sich gemeinsam um die Kinder, waren sehr freundlich und aufgeschlossen und ließen keinerlei Berührungsängste mit mir erkennen. Die Bilder zeigen das Familienoberhaupt mit einer seiner 9 Frauen, die mit einem Reibstein Korn mahlt, Datogafrauen, Datoga beim traditionellen Brettspiel.

Bewusstsein

Die Frage danach, wie „Bewusstsein“ wissenschaftlich untersuchbar ist, ist außerordentlich komplex. Sie lässt sich weder aus neurowissenschaftlicher noch aus psychologischer oder philosophischer Sicht allein beantworten. Schon der Gegenstand einer solchen Untersuchung, verschwimmt in der Beliebigkeit des Verständnisses dessen, was Bewusstsein ist. Bereits 1913 kam der Psychologe Watson zu der Schlussfolgerung, dass Begriffe, wie der des Bewusstseins unwissenschaftlicher Ballast seien, die keinen Platz in der Wissenschaft hätten. „Denn die Vertreter derartiger Psychologien „…sagen uns nicht, was Bewusstsein ist, sondern fangen einfach an, etwas hineinzulegen“ (Watson 1968). Diese Kritik ist auch heute nicht hinfällig geworden.

Eine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage danach, was Bewusstsein, subjektive Empfindungen und dergleichen sind und welches ihre neurobiologischen Korrelate sind, muss versuchen, diese Begriffe angemessen zu präzisieren und angeben, welches die Kriterien sind, aufgrund derer sich feststellen lässt, ob eine menschliche oder tierische Leistung bewusst oder von einem subjektiven Erlebnis begleitet ist, oder ob es sich um eine Leistung handelt, die ohne Bewusstsein oder subjektive Empfindung abläuft. Erst diese Präzisierung ist eine Voraussetzung dafür, dass die neurobiologischen Abläufe, die Bewusstsein auszeichnen, wissenschaftlich untersuchbar sind und dass die neurobiologischen Prozesse, die das Bewusstsein auszeichnen, überhaupt erkennbar werden.

Eine Präzisierung des Bewusstseinsbegriffs wurde im Rahmen methodologischer und neuropsychologischer Untersuchungen durchgeführt. An hirngeschädigten Patienten wurde gezeigt, auf welche Weise die Entstehung eines bewussten visuellen Eindrucks im Gegensatz zu einer unbewusst ablaufenden Verarbeitung von Sehreizen im Gehirn quantitativ messbar ist und welches die zugrunde liegenden neuronalen Prozesse sind. Die Ergebnisse wurden beschrieben in:

R. Werth:
Bewußstsein

Springer-Verlag
Berlin Heidelberg New York Tokyo

1983

 

 

Die Natur des BewusstseinsR. Werth:
Die Natur des Bewusstseins

Verlag C.H. Beck
München
Wie Wahrnehmung und freier Wille im Gehirn entstehen
2010

 

 

Eine der am schwersten nachvollziehbare Veränderung des Bewusstseins, die durch eine Hirnschädigung ausgelöst werden kann, ist das fehlende Bewusstsein der Existenz einer Raum- und/oder Körperhälfte, eine Störung, die als „Neglect“ bezeichnet wird. Die Patienten richten Kopf und Augen nicht mehr in eine Raumhälfte, Objekte in dieser Raumhälfte werden nicht beachtet, als existierten sie nicht. So werden z.B. nur Speisen auf der rechten Hälfte eines Tellers gegessen, beim Zeichnen eines Objekts wird dessen linke Seite nicht dargestellt. Die Patienten waschen und bekleiden eine Körperhälfte nicht und rasieren nur eine Hälfte des Gesichts. Sie sind weder fähig, den Arm einer Körperhälfte oder ein Objekt z.B. links von ihnen zu finden. Sie äußern sich nicht über eine Raum- und/oder Körperhälfte und scheinen Äußerungen anderer Personen über eine Raumhälfte oder über eine ihrer Körperhälften nicht zu verstehen. Trotz normaler Intelligenz, verhalten die Patienten sich ganz so, als hätte eine Raum- und/oder Körperhälfte aufgehört zu existieren. Im Rahmen eines Forschungsprojekts wurden die diagnostischen Kriterien für diese Störung präzisiert, die zahlreichen verschiedenen Phänomene, in denen die Störung zum Ausdruck kommt und die neuronalen Grundlagen der Störung untersucht. Die Ergebnisse wurden beschrieben in:

R. Werth:
Neglect nach Hirnschädigung

Unilaterale Verminderung der Aufmerksamkeit und Raumrepräsentation

Verlag C. H. Beck
München, 1998

Eine literarische Beschreibung der wesentlichsten Phänomene findet sich auch in:

R. Werth:
Hirnwelten

Berichte vom Rande des Bewusstseins

Verlag C. H. Beck

 

Legasthenie

Lesen: eine komplexe Tätigkeit

Lesen ist eine komplexe Tätigkeit, an der unterschiedliche Hirnfunktionen beteiligt sind. Die Störung jeder dieser Hirnfunktionen kann eine Lesestörung verursachen. Was üblicherweise als „Legasthenie“ bezeichnet wird, ist eine Zusammenfassung von Lesestörungen, die auf unterschiedliche Ursachen zurückführbar sind. So vielfältig die Ursachen einer Lesestörung sind, so vielfältig müssen auch auf diese Ursachen gerichtete Therapieverfahren sein.

Um einen Text flüssig zu lesen, müssen die Augen für genau berechnete Zeitintervalle auf eine bestimmte Stelle innerhalb eines Wortes gerichtet sein. Während dieser Zeitintervalle muss die Größe des zu lesenden Wortsegments oder Wortes bestimmt werden, das betreffende Wort oder Wortsegment muss „im Ganzen“ gesehen werden und die entsprechende Lautfolge und die Bedeutung einzelner Wörter und Wortfolgen müssen aus dem Gedächtnis abgerufen werden. Gleichzeitig muss der Zeitpunkt und das Ziel des anschließend auszuführenden Blicksprungs programmiert werden. Während des Blicksprungs müssen Sehfunktionen unterdrückt werden und sie müssen sich nach erfolgtem Blicksprung vollständig erholen.

Damit diese Funktionen fehlerfrei ablaufen können, bedarf es des komplexen Zusammenwirkens zahlreicher Gebiete des Gehirns. Zu ihnen zählen Strukturen des Sehsystems, Strukturen, die visuelle Aufmerksamkeitsleistungen steuern, Hirnstrukturen die verschiedene Gedächtnisleistungen hervorbringen und mehrerer Gebiete des Gehirns, die Augenbewegungen programmieren und ausführen. Jede dieser Strukturen des Gehirns kann in ihrer Funktion gestört sein. Das Ergebnis ist eine Lesestörung, deren Ursache jedoch nicht ohne weiteres erkennbar ist.

Diagnose

In einem Forschungsprojekt wurden Kinder mit Lesestörungen unterschiedlicher Ursache untersucht und es wurde ein PC – gestütztes Diagnose- und Therapieprogramm entwickelt. Die Software enthält sowohl Programme zur Diagnose der Ursachen der Lesestörungen als auch Programme zur gezielten therapeutischen Beseitigung oder Umgehung dieser Ursachen. So werden z.B. Buchstaben, Buchstabenverbindungen, Wortsegmente, Wörter und Texte unter solchen Testbedingungen auf dem Monitor dargestellt, dass sie die Ursache der Leseschwäche erkennen lassen und die Reaktionen der LeserInnen werden vom Computer gemessen. Die mittels eines Abspielsystems gezeigten Übungstexte sind der Art und Schwere der Lesestörung angepasst und so bearbeitet, dass die für das Lesen kritischen Parameter kontrolliert werden können. Dazu wurden attraktive Texte aus Erstlesereihen ausgewählt. Für ältere LeserInnen werden spezielle Texte entwickelt. Ein integriertes Statistikprogramm ermöglicht TherapeutInnen, LehrerInnen und Eltern die Entwicklung der Leseleistung zu verfolgen und dokumentiert jeden Lesefortschritt.

Therapie

Der Therapieteil enthält spezielle Übungen zur Verbesserung (1) der Fähigkeit zum Buchstabenerkennen, (2) der Fähigkeit zur simultanen Wahrnehmung und dem simultanen Erkennen von Buchstabensequenzen (Wörtern und Wortsegmenten) (3) zur Verbesserung des Abrufs der zu Wörtern und Wortsegmenten gehörenden Lautfolgen, (4) der Vergrößerung des Aufmerksamkeitsfeldes und der Reduktion des Störeinflusses von Textsegmenten auf das Erkennen anderer Wortsegmente oder Wörter, (5) einer Verbesserung der Kontrolle der Länge der Fixationsphasen und (6) einer Verbesserung der Größe, des Ziels und der zeitlichen Koordination der Blicksprünge während des Lesens. Das Programm wertet die Leistung der LeserInnen in den durchgeführten Tests und Übungen automatisch aus und gibt Auskunft über das jeweils erreichte Leistungsniveau.

Wirksamkeit

In einer Studie konnte nachgewiesen werden, dass im Falle bestimmter Lesestörungen, bei etwa der Hälfte der Kinder die Fehlerrate innerhalb einer halben Stunde um 72 % abnahm, wenn sie ein gezieltes Training mit Hilfe des celeco Leselernverfahrens erhielten, in dem für das Lesen kritische Parameter kontrolliert wurden. Eine Kontrollgruppe, die nur das Lesen von Texten übte, konnte ihre Leistung in der gleichen Zeit hingegen nicht verbessern (Werth 2001).

Die vielfältigen Ursachen, die eine Lesestörung (Legasthenie) hervorbringen können, die Möglichkeiten, diese durch geeignete diagnostische Mittel zu erkennen und erfolgreich erprobte Therapieverfahren werden beschrieben in:

Werth R.

Legasthenie und andere Lesestörungen

Wie man sie erkennt und behebt
Verlag C.H. Beck
München

3. Auflage 2007